Von Prof. Dirk Helbing und Stefan Klauser, ETH Zürich
In letzter Zeit konnten wir in Europa ein Auseinanderklaffen der Vorstellungen darüber beobachten, wie eine effektive und gerechte Staatsführung aussehen soll. Manche Kommentatoren sahen bereits des Ende der Demokratie gekommen. Sie propagierten neue, digital ermächtigten Aristokratien oder gar die Rückkehr zu autoritären Regimes nach dem Motto: "Mit Big Data wird es jetzt möglich, wie ein wohlwollender Diktator zu regieren." Andere jedoch verteidigten die Demokratie, ja riefen nach mehr Mitspracherecht und nach einer besseren Nutzung ihrer Potenziale.
Dieser Artikel führt aus, weshalb die Anpassung der Instrumente der (direkten) Demokratie an moderne Gegebenheiten und die effiziente Nutzung digitaler Technologien – ein "Upgrade" quasi – unerlässlich ist. Zudem erläutert er, wie wir zu einer neuen Ära demokratischer Zusammenarbeit zwischen Politik und Bevölkerung gelangen können. Auch in Zukunft wird die Demokratie das innovativste und gerechteste politische System sein, selbst – oder gerade – in der digitalisierten Welt. Für den Frieden zwischen den Völkern ist ein demokratischer Ansatz, der dank Gewaltenteilung auf ein Gleichgewicht der Kräfte hinzielt, unerlässlich.
Mancher Beobachter setzt das Konzept der Digitalen Demokratie schlicht mit „Demokratie im digitalen Zeitalter“ gleich. Schnell heisst es dann, Digitale Demokratie sei schuld an der zunehmenden Radikalisierung von Bürgern und an der Schwierigkeit, einvernehmliche Lösungen zu finden. Es ist nicht zu bestreiten, dass wir in den letzten Jahren eine Polarisierung der Gesellschaft erlebt haben. Man schaue hin wo man will: USA, Brexit, Masseneinwanderungsinitiative, Türkei... Die Liste liesse sich beliebig erweitern. Wähler werden in öffentlichen, medialen Diskussionen, allen voran in Sozialen Medien, mit zunehmend extremen Positionen konfrontiert. Dies ist jedoch ein Nebeneffekt der von heutigen Medienkanälen kreierten "Echokammern" bzw. "Filter Bubbles", die eine ausgewogene Informationsbeschaffung erschweren und unsere Fähigkeit zur kritischen Reflexion einschränken.
In Europa lässt sich das anhand verschiedener Beispiele aufzeigen. Vermehrt bemerkbar gemacht hat sich das in letzter Zeit v.a. bei der Beziehung der EU-Bürgerinnen und -Bürger zur EU selbst. Gemäss dem sog. Bryce Law, nachdem sich junge Institutionen zunehmend zentralisieren, hat sich die EU vermehrt über das Subsidiaritätsprinzip und regionale Befindlichkeiten hinweggesetzt. Ein Universalansatz kann jedoch der Diversität in Europa (mit teilweise beachtlichen Gräben zwischen jungen und älteren Bürgern, Stadt und Land und verschiedenen Kulturen) nicht gerecht werden. Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, die sich von dieser zentralisierten Mehrheitspolitik vernachlässigt fühlen – teilweise zusätzlich aufgeheizt durch Massenmedien, Soziale Medien und den Echokammereffekt – neigen oft zu radikalen Lösungen für komplexe Herausforderungen, seien es nun die Fragen nach einer vernünftigen Migrationspolitik oder nach dem Verbleib in der EU.
Eines ist sicher: die soziale und politische Komplexität hat sich mit der Vielzahl an gegenseitigen Abhängigkeiten in unserer hochgradig vernetzten und globalisierten Welt massiv erhöht. Auch für Experten ist es heute keineswegs trivial, mit der geballten Komplexität zurechtzukommen. Deshalb sehen einige Auguren die Wählerinnen und Wähler als überfordert an. Diese Überforderung mache sie anfällig für populistische und unangebrachte Lösungen. Und deshalb solle die Bevölkerung mit ihren selbstzentrierten Wünschen nicht mehr berücksichtigt werden. Eine datengetriebene Gesellschaft liesse viel bessere Resultate erwarten. Googles allwissender Algorithmus oder IBMs kognitiver Computer „Watson“ würden dann über unser Wohl entscheiden. Je nach Implementierung dieser neuen Weltordnung wird das Experiment aber fatalerweise darin enden, was man entweder als Faschismus 2.0 bezeichnen würde ("Big Brother" und die "Schöne Neue Welt"), als Kommunismus 2.0 (Verteilung von Ressourcen und Rechten basierend auf der Idee eines "wohlwollenden Diktators") oder als Feudalismus 2.0 (basierend auf Monopolen und einer Art Kastensystem). Wir hätten es also mit einer Art digitalen Aufwärmung vergangener Herrschaftssysteme zu tun, die aber nicht dadurch akzeptabel würden, dass sie sich nun auf eine breite Datenbasis stützen. Wir brauchen keine Reinkarnation des Leviathans. Nein, die Frage sollte viel eher lauten: Wie können wir die heutigen digitalen Möglichkeiten nutzen, um die Demokratie zu stärken, der "schlechtesten Art der Regierungsführung – aber der besten Regierungsform, die es gibt", wie es Churchill sinngemäss zu sagen pflegte.
Die Langzeitfolgen einer zentralisierten top-down Politik können verheerend sein: sie umfassen den Verlust an sozio-ökonomischer Diversität und Resilienz, den Rückgang von Innovationsraten und soziökonomischem Fortschritt, politische Instabilität, Krieg oder Revolutionen. Zentralisierte Top-Down-Optimierung kann in Unternehmen oder Lieferketten funktionieren, wenn der Markt genügend Variabilität garantiert. Komplexe gesellschaftliche Strukturen benötigen jedoch Ideenpluralismus und kombinatorische Innovation, um mit die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen. Die Erfolgsprinzipien der Vergangenheit – Globalisierung, Optimierung und Regulierung – haben mehr oder weniger ihren Zenit erreicht. Um nun auf ein neues Level der Zivilisation zu kommen, muss eine Netzwerk-Wirtschaft geschaffen werden, die auf den Prinzipien der Ko-Kreation, Ko-Evolution und kollektive Intelligenz fusst.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass wir von einem Paradigma der Kontrolle zu einem der Befähigung übergehen müssen ("from power to empowerment"). Nur so können kulturell angepasste, nachhaltige und legitime Resultate erzielt werden, die Komplexität und Diversität erfolgreich in kreative Vielfalt und sozio-ökonomischen Wert verwandeln. Die Kombination von smarten Technologien mit smarten Bürgerinnen und Bürgern stellt das Rezept für eine smartere Gesellschaft dar. Doch wie soll diese Kombination aussehen? Das Stichwort heisst MOODs (englisch für "Massive Open Online Deliberation Platforms", auf Deutsch würde man etwa von offenen Online-Deliberationsplattformen sprechen). Man sollte sich hier einen virtuellen Verhandlungstisch vorstellen, an dem Individuen und Interessengruppen ihre Argumente zu einem spezifischen Thema einbringen können. Oder sinngemäss nach Landa und Meirowitz: indem umfassendere Informationen gesammelt und besser dargestellt werden, ermöglichen Deliberationsprozesse den Teilnehmenden eine besser durchdachte Meinung und eine bessere kollektive Entscheidungsfindung durch Interaktion.[1]
In einem zweiten Schritt können die MOODs genutzt werden, um innovativere Politikansätze auszuarbeiten, die verschiedene Perspektiven integrieren und nicht einfach Interessen- und Umverteilungspolitik auf der Basis von minimalen Mehrheiten betreiben. Denn darin besteht der Kern einer nachhaltigen Funktionsweise der digitalen Demokratie: kollektive Intelligenz zu erzeugen, indem man das Wissen und die Ideen von Vielen (einschliesslich Künstlicher Intelligenz) zusammenführt. Oftmals schon und bei den verschiedensten komplexen Herausforderungen wurde gezeigt, dass in der Kombination von Ideen und in der Interaktion zwischen Menschen (und von Menschen und Maschinen) die besten Resultate erzielt werden können.
Ein solcher Ansatz kann nicht nur die Entfaltungsmöglichkeiten vieler Bevölkerungsgruppen und kombinatorische Innovation fördern, sondern auch für eine möglichst grosse Chancengleichheit und eine ausgeglichene Zufriedenheit unter den Bevölkerungsgruppen sorgen. Auch wenn man bei einer Entscheidung oft nicht alle gleichermassen glücklich machen kann, ist es einleuchtend, dass ein partizipativer Deliberationsprozess im Durchschnitt zu besseren Lösungen für alle und zu grösserer Zufriedenheit mit dem politischen System führen kann. Anders gesagt: Digitale Demokratie ist dann erfolgreich, wenn es gelingt, die digitalen Möglichkeiten so zu nutzen, dass die Ideen von Habermas oder Fishkin zur deliberativen Demokratie effizient umgesetzt werden.
Es sollte eigentlich einleuchten, dass es für eine vorteilhafte Entfaltung der Komplexität und Diversität moderner Gesellschaften nicht erfolgreich sein kann, zu früheren Regierungssystemen zurückzukehren, die sich bereits als unzulänglich erwiesen haben. Wir brauchen keine Rückkehr zu Lösungen der Vergangenheit – wir brauchen Evolution. Und darum sollten wir die Demokratie entsprechend der Möglichkeiten unserer Zeit mit digitalen Mitteln "upgraden". In weiten Teilen der entwickelten Welt und als Resultat von intellektuellem Fortschritt, Freiheitskämpfen und Revolutionen, hat sich die Demokratie als das erfolgreichste und friedlichste Regierungssystem durchgesetzt. Deshalb propagieren wir anstelle einer datengetriebenen Politik basierend auf zentraler Top-Down-Kontrolle und von europäischen oder globalen Einheitslösungen einen Weg, der die Komplexität und Vielfalt zu unseren Gunsten nutzen kann – durch den Aufbau von dezentralisierten, partizipativen Kooperations-Netzwerken.
In jüngster Zeit wurde mehrfach hervorgehoben, dass – insbesondere in polarisierten Gesellschaften und solchen mit signifikanten Minderheitsgruppierungen – die Suche einfacher 51%-Mehrheiten, sei dies in Wahlen oder Abstimmungen – keine geeignete Lösung darstellt, da sie zu einer Diktatur der Mehrheit über die Minderheit(en) führen kann. Zusätzlich haben besonders knappe Resultate (man nehme die Abstimmung zum Brexit oder zur Masseneinwanderungsinitiative in der Schweiz) wiederholt zu Protesten bezüglich der Aussagekraft der Resultate und der Fairness des politischen Prozesses hervorgerufen. Die unterlegene Seite, die einen signifikanten Anteil der Bevölkerung repräsentiert, hat berechtigte Ängste, unter den neuen Bestimmungen zu leiden und hat ein starkes Interesse daran, für eine gemässigte Umsetzung der Beschlüsse zu kämpfen.
Der Umstand, dass auch grössere Minderheiten (Frauen, Ausländer, ökonomisch benachteiligte Schichten, ländliche Regionen usw.) häufig ignoriert werden, stellt eine signifikante Herausforderung dar, deren Lösung nicht-trivial ist. Dennoch wird es mittels MOODs möglich, verschiedene Ansichten und Lösungsansätze zu integrieren. Heute können die Bürgerinnen und Bürger zu einer komplexen, vielschichtigen Frage meist nur „ja“ oder „nein“ sagen. „Ja“ oder „nein“ reicht jedoch oft nicht. Es braucht eine differenziertere und bessere Beteiligung der Bevölkerung. Die Leute sollen kontinuierlich und mit minimem zusätzlichen Aufwand an politischen und gesellschaftlichen Diskussionen partzipieren können. Sie sollen sich differenzierter äussern und Ideen sowie Lösungsvorschläge einbringen können. Der Brexit wird in mancherlei Weise das Leben der Menschen in Grossbritannien verändern. Die meisten Wählerinnen und Wähler haben in ihm sowohl Vorteile als auch Nachteile erkennen können. Wären die Politiker und Institutionen darüber informiert gewesen, wie das Elektorat die Wichtigkeit bestimmter Facetten der Mitgliedschaft in der EU bewerten (zum Beispiel bezüglich Personenfreizügigkeit, politischer Abhängigkeit und ökonomischer Verflechtung), dann hätten sie die Möglichkeit gehabt, wichtige Handlungsfelder und Lösungsmöglichkeiten zu identifizieren und so einer aufkommenden Unzufriedenheit zuvorzukommen.
Natürlich ist Politik kein Selbstbedienungs-Wunderland. Manchmal ist man gezwungen, den Wählerinnen und Wählern die Wahl zwischen zwei (oder mehr) nicht vereinbaren Lösungs-Paketen zu überlassen. Dennoch ist es einleuchtend, dass ein besseres Verständnis der Wählerpräferenzen den politischen Prozess verbessern könnte und besser zugeschnittene Lösungen erlaubt, insbesondere in Kombination mit einem vernünftigen Mass an Föderalismus und Subsidiarität.
Ein neu definierter, inklusiverer Prozess hat diverse Vorteile. Erstens entsteht ein Lerneffekt durch die Beschäftigung mit diversen Aspekten von komplexen politischen Herausforderungen. Zweitens kann die Bevölkerung von Anfang an zur Lösung einer politischen Frage beitragen, was zu einer höheren Zufriedenheit führen kann. Dadurch kann ein solcher Beteiligungs-Prozess Protestbewegungen und extremen politischen Lösungen teilweise den Nährboden entziehen.
Auch wenn die Resultate des Deliberationsprozesses nicht zwingend bindend wären, würden durch MOODs Optionen und Richtungen erkennbar. Durch die Berücksichtigung von regionalen, ethnischen und religiösen Unterschieden können kulturell angepasste Gesetze einfacher ausgearbeitet werden, und es wird klar ersichtlich, ob im Einzelfall ein Gesetz eher auf nationaler oder regionaler oder kommunaler Ebene ausgearbeitet werden sollte. Am Ende eines Deliberationsprozesses kann es immer noch einer Mehrheitswahl bedürfen. Aber zu diesem Zeitpunkt enthielte der Lösungsansatz bereits einen substantiellen Anteil an Ideen und Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger, und es käme daher viel seltener zu polarisierten Ergebnissen.[2] Und selbst wenn ein neues Gesetz zu einer 50:50 Polarisierung führen würde, könnten Deliberationsprozesse nach einer solchen Abstimmung, insbesondere wenn sie wiederum mit einem gewissen Mass an regionaler Autonomie bei der Umsetzung der Resultate kombiniert werden, zu einer besseren Akzeptanz der Ergebnisse führen.
Fehlende Medienkompetenz, knappe Zeit und sogenannte Filter Bubbles (der Echokammereffekt von Sozialen Medien) sowie die finanziellen Möglichkeiten von mächtigen Meinungsmachern führen dazu, dass ungenaue, manipulierende oder gar gänzlich falsche Informationen verbreitet werden. In diesem Zusammenhang spricht man inzwischen oft vom post-faktischen Zeitalter. Für die Menschen wird es immer schwieriger zu beurteilen, ob eine Information vertrauenswürdig bzw. richtig ist oder nicht. Regierungen, Firmen und reiche Individuen können sich heute ganze Armeen an Bloggern und Social Media Experten kaufen, die eigens angelegte Profile und sogenannte Chat Bots (Chatroboter) betreiben, die Social Media Kanäle mit Informationen fluten, die sie zu verbreiten gedenken. Viele der heute beliebten Social Media Plattformen haben momentan entweder keine Möglichkeiten und/oder kein Interesse, diese Diskussionen zu moderieren. Die so entstehende Informationsasymmetrie widerspricht der Idee eines authentischen Deliberationsprozesses, wie er zum Beispiel von John S. Dryzek definiert wurde.[3] Es gibt jedoch auch Beispiele, die einen Schritt in die richtige Richtung gehen, z.B. die in den Vereinigten Staaten zunehmend beliebte Diskussionsplattform „Reddit“. [DH1] Reddit erlaubt nutzergenerierte Inhalte und Diskussionen. Ein Bewertungssystem ermöglicht es den Nutzerinnen und Nutzern zudem, beliebte Inhalte prominenter zu verbreiten. Entlang dieser Linien gilt es, neue Plattformen zu schaffen, die einen informierten, ausgewogenen, gewissenhaften, substanziellen und umfassenden Deliberationsprozess ermöglichen.
Kommen wir also zu den Kernmerkmalen, die für das Funktionieren solcher MOODs notwendig sind: 1) MOODs sollen transparent und dezentralisiert organisiert sein, um Manipulationen und Zensur zu verhindern. 2) MOODs sollen moderiert werden durch von der Gemeinschaft gewählte Moderatorinnen und Moderatoren, um faire und konstruktive Diskussionen zu ermöglichen. 3) Künstliche Intelligenz kann dazu genutzt werden, abnormale Aktivitäten zu erkennen und damit Chat-Roboter und Ghostwriter zu enttarnen. Künstliche Intelligenz kann zudem die verschiedenen Argumente in einer Diskussion sortieren und organisieren und so zu einer ausgewogenen und übersichtlichen Diskussion beitragen. Sie kann überdies Behauptungen überprüfen und Fakten ergänzen. 4) Reputationssysteme können verantwortungsbewusstes Handeln fördern und Beiträge von hoher Qualität und solche von Autoren mit hoher Bewertung fördern. Hierbei können manipulierte Bewertungen ebenfalls mit Künstlicher Intelligenz herausgefiltert werden. 5) Ein transparentes und faires Qualifikationsverfahren (z.B. anhand gesammelter Punkte für Beiträge mit einer gewissen Mindestbewertung durch die Gemeinschaft) kann genutzt werden, um zu entscheiden, welche zusätzliche Funktionen und Nutzungsmöglichkeiten freigeschaltet werden.
MOODs können sich verbreiten, ohne dass es Top-Down-Entscheidungen der Politik bedarf. Sind einmal genügend Nutzerinnen und Nutzer vorhanden und wird gezeigt, dass die Diskussionsergebnisse relevant sind, wird der Nutzen für den politischen Prozess schnell ersichtlich. Dennoch ist es natürlich wünschenswert, wenn auch die Politik dazu beiträgt, unsere Gesellschaft mittels Digitaler Demokratie auf ein neues Level der Lebensqualität und Lebenszufriedenheit zu führen.
Es ist also völlig inadäquat, die Digitale Demokratie als frustrierenden Prozess in einer mediendominierten und digitalisierten Welt abzutun. Ein hochentwickeltes Modell einer Digitalen Demokratie muss auf Ko-Kreation, Ko-Evolution und kollektiven Intelligenz fussen, die allesamt durch den Einsatz von modernen digitalen Mitteln unterstützt werden können.[4]
Sicherlich braucht es erhebliche Anstrengungen, diese Plattformen zu kreieren und den demokratischen Prozess fit zu machen für das digitale Zeitalter. Dabei stehen insbesondere technische und rechtliche Fragen im Vordergrund. Aber auch das Aufbauen einer ausreichend grossen Nutzergemeinschaft ist eine Herausforderung. Dabei kommen diverse Anreizmechanismen in Betracht. Wichtig ist weiterhin der einfach Zugang (z.B. via Mobiltelefon) sowie generell die Nutzerfreundlichkeit und das Einbauen von spielerischen Elementen (Stichwort: Gamification). Keine dieser Hürden wäre aber so gross, dass man sie nicht bewältigen könnte. Der potenzielle Nutzen eines neu ausgelegten (direkt-)demokratischen Prozesses überragt jenen einer Rückkehr zu überholten Herrschaftsformen der Vergangenheit bei weitem.
Digitale Demokratie kann einige der wichtigsten Errungenschaften unserer Gesellschaft wiederbeleben: Selbstbestimmung, Freiheit, Gewaltenteilung, Chancengleichheit, soziale Partizipation und Mitbestimmung sowie Diversität und gesellschaftliche Resilienz.
Die Zeit ist gekommen, um gemeinsam an einem Update des Betriebssystems von Politik und Gesellschaft zu arbeiten. Digitale Demokratie ist die Basis für die Erneuerung des vertrauenvollen Miteinanders und gesellschaftlichen Friedens. Sie ist aber auch die Voraussetzung für eine neu belebte, partizipative Wirtschaft, die es jedem gleichermassen erlaubt, innovative Beiträge zu leisten.
Dirk Helbing ist Professor für Computational Social Science an der ETH Zürich und Mitglied der Deutschen Akademien der Wissenschaft „Leopoldina“. Er leitet die nervousnet.info Initiative, die den Nutzen des Internets der Dinge für alle zugänglich machen will.
Stefan Klauser ist Politikwissenschaftler und Fintech-Enthusiast. Er leitet in Professor Helbings Team die strategische Arbeit zum Thema „Digitale Gesellschaft“. Bei einer früheren Stelle im Schweizer Aussendepartement war er für die Erschaffung einer Ausstellung zum Thema der modernen direkten Demokratie zuständig.
Dieser Text basiert auf einer früheren Version, erschienen am 4. August 2016 in der US-Ausgabe der Huffington Post (http://www.huffingtonpost.com/entry/how-to-make-democracy-work-in-the-digital-age_us_57a2f488e4b0456cb7e17e0f).
[1] D. Landa / A. Meirowitz (2009): „Game Theory, Information, and Deliberative Democracy“, in American Journal of Political Science, Volume 53, Issue 2, pages 427–444.
[2] Compare: James S. Fishkin/ Robert C. Luskin (1999): Bringing Deliberation To The Democratic Dialogue.
[3] Dryzek (1990): Discursive Democracy: Politics, Policy, and Political Science.
[4] D. Helbing, Society 4.0: Upgrading society, but how? https://www.researchgate.net/publication/304352735; D. Helbing, Why we need democracy 2.0 and capitalism 2.0 to survive, Jusletter IT (May 25, 2016), see http://bit.ly/1O5axWZ
In letzter Zeit konnten wir in Europa ein Auseinanderklaffen der Vorstellungen darüber beobachten, wie eine effektive und gerechte Staatsführung aussehen soll. Manche Kommentatoren sahen bereits des Ende der Demokratie gekommen. Sie propagierten neue, digital ermächtigten Aristokratien oder gar die Rückkehr zu autoritären Regimes nach dem Motto: "Mit Big Data wird es jetzt möglich, wie ein wohlwollender Diktator zu regieren." Andere jedoch verteidigten die Demokratie, ja riefen nach mehr Mitspracherecht und nach einer besseren Nutzung ihrer Potenziale.
Dieser Artikel führt aus, weshalb die Anpassung der Instrumente der (direkten) Demokratie an moderne Gegebenheiten und die effiziente Nutzung digitaler Technologien – ein "Upgrade" quasi – unerlässlich ist. Zudem erläutert er, wie wir zu einer neuen Ära demokratischer Zusammenarbeit zwischen Politik und Bevölkerung gelangen können. Auch in Zukunft wird die Demokratie das innovativste und gerechteste politische System sein, selbst – oder gerade – in der digitalisierten Welt. Für den Frieden zwischen den Völkern ist ein demokratischer Ansatz, der dank Gewaltenteilung auf ein Gleichgewicht der Kräfte hinzielt, unerlässlich.
Warum Digitale Demokratie oft missverstanden wird
Mancher Beobachter setzt das Konzept der Digitalen Demokratie schlicht mit „Demokratie im digitalen Zeitalter“ gleich. Schnell heisst es dann, Digitale Demokratie sei schuld an der zunehmenden Radikalisierung von Bürgern und an der Schwierigkeit, einvernehmliche Lösungen zu finden. Es ist nicht zu bestreiten, dass wir in den letzten Jahren eine Polarisierung der Gesellschaft erlebt haben. Man schaue hin wo man will: USA, Brexit, Masseneinwanderungsinitiative, Türkei... Die Liste liesse sich beliebig erweitern. Wähler werden in öffentlichen, medialen Diskussionen, allen voran in Sozialen Medien, mit zunehmend extremen Positionen konfrontiert. Dies ist jedoch ein Nebeneffekt der von heutigen Medienkanälen kreierten "Echokammern" bzw. "Filter Bubbles", die eine ausgewogene Informationsbeschaffung erschweren und unsere Fähigkeit zur kritischen Reflexion einschränken.
In Europa lässt sich das anhand verschiedener Beispiele aufzeigen. Vermehrt bemerkbar gemacht hat sich das in letzter Zeit v.a. bei der Beziehung der EU-Bürgerinnen und -Bürger zur EU selbst. Gemäss dem sog. Bryce Law, nachdem sich junge Institutionen zunehmend zentralisieren, hat sich die EU vermehrt über das Subsidiaritätsprinzip und regionale Befindlichkeiten hinweggesetzt. Ein Universalansatz kann jedoch der Diversität in Europa (mit teilweise beachtlichen Gräben zwischen jungen und älteren Bürgern, Stadt und Land und verschiedenen Kulturen) nicht gerecht werden. Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, die sich von dieser zentralisierten Mehrheitspolitik vernachlässigt fühlen – teilweise zusätzlich aufgeheizt durch Massenmedien, Soziale Medien und den Echokammereffekt – neigen oft zu radikalen Lösungen für komplexe Herausforderungen, seien es nun die Fragen nach einer vernünftigen Migrationspolitik oder nach dem Verbleib in der EU.
Ruf nach einer mehrdimensionalen Politik
Eines ist sicher: die soziale und politische Komplexität hat sich mit der Vielzahl an gegenseitigen Abhängigkeiten in unserer hochgradig vernetzten und globalisierten Welt massiv erhöht. Auch für Experten ist es heute keineswegs trivial, mit der geballten Komplexität zurechtzukommen. Deshalb sehen einige Auguren die Wählerinnen und Wähler als überfordert an. Diese Überforderung mache sie anfällig für populistische und unangebrachte Lösungen. Und deshalb solle die Bevölkerung mit ihren selbstzentrierten Wünschen nicht mehr berücksichtigt werden. Eine datengetriebene Gesellschaft liesse viel bessere Resultate erwarten. Googles allwissender Algorithmus oder IBMs kognitiver Computer „Watson“ würden dann über unser Wohl entscheiden. Je nach Implementierung dieser neuen Weltordnung wird das Experiment aber fatalerweise darin enden, was man entweder als Faschismus 2.0 bezeichnen würde ("Big Brother" und die "Schöne Neue Welt"), als Kommunismus 2.0 (Verteilung von Ressourcen und Rechten basierend auf der Idee eines "wohlwollenden Diktators") oder als Feudalismus 2.0 (basierend auf Monopolen und einer Art Kastensystem). Wir hätten es also mit einer Art digitalen Aufwärmung vergangener Herrschaftssysteme zu tun, die aber nicht dadurch akzeptabel würden, dass sie sich nun auf eine breite Datenbasis stützen. Wir brauchen keine Reinkarnation des Leviathans. Nein, die Frage sollte viel eher lauten: Wie können wir die heutigen digitalen Möglichkeiten nutzen, um die Demokratie zu stärken, der "schlechtesten Art der Regierungsführung – aber der besten Regierungsform, die es gibt", wie es Churchill sinngemäss zu sagen pflegte.
Demokratie 2.0 – wie man kollektive Intelligenz mit digitalen Mitteln nutzen kann
Die Langzeitfolgen einer zentralisierten top-down Politik können verheerend sein: sie umfassen den Verlust an sozio-ökonomischer Diversität und Resilienz, den Rückgang von Innovationsraten und soziökonomischem Fortschritt, politische Instabilität, Krieg oder Revolutionen. Zentralisierte Top-Down-Optimierung kann in Unternehmen oder Lieferketten funktionieren, wenn der Markt genügend Variabilität garantiert. Komplexe gesellschaftliche Strukturen benötigen jedoch Ideenpluralismus und kombinatorische Innovation, um mit die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen. Die Erfolgsprinzipien der Vergangenheit – Globalisierung, Optimierung und Regulierung – haben mehr oder weniger ihren Zenit erreicht. Um nun auf ein neues Level der Zivilisation zu kommen, muss eine Netzwerk-Wirtschaft geschaffen werden, die auf den Prinzipien der Ko-Kreation, Ko-Evolution und kollektive Intelligenz fusst.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass wir von einem Paradigma der Kontrolle zu einem der Befähigung übergehen müssen ("from power to empowerment"). Nur so können kulturell angepasste, nachhaltige und legitime Resultate erzielt werden, die Komplexität und Diversität erfolgreich in kreative Vielfalt und sozio-ökonomischen Wert verwandeln. Die Kombination von smarten Technologien mit smarten Bürgerinnen und Bürgern stellt das Rezept für eine smartere Gesellschaft dar. Doch wie soll diese Kombination aussehen? Das Stichwort heisst MOODs (englisch für "Massive Open Online Deliberation Platforms", auf Deutsch würde man etwa von offenen Online-Deliberationsplattformen sprechen). Man sollte sich hier einen virtuellen Verhandlungstisch vorstellen, an dem Individuen und Interessengruppen ihre Argumente zu einem spezifischen Thema einbringen können. Oder sinngemäss nach Landa und Meirowitz: indem umfassendere Informationen gesammelt und besser dargestellt werden, ermöglichen Deliberationsprozesse den Teilnehmenden eine besser durchdachte Meinung und eine bessere kollektive Entscheidungsfindung durch Interaktion.[1]
In einem zweiten Schritt können die MOODs genutzt werden, um innovativere Politikansätze auszuarbeiten, die verschiedene Perspektiven integrieren und nicht einfach Interessen- und Umverteilungspolitik auf der Basis von minimalen Mehrheiten betreiben. Denn darin besteht der Kern einer nachhaltigen Funktionsweise der digitalen Demokratie: kollektive Intelligenz zu erzeugen, indem man das Wissen und die Ideen von Vielen (einschliesslich Künstlicher Intelligenz) zusammenführt. Oftmals schon und bei den verschiedensten komplexen Herausforderungen wurde gezeigt, dass in der Kombination von Ideen und in der Interaktion zwischen Menschen (und von Menschen und Maschinen) die besten Resultate erzielt werden können.
Ein solcher Ansatz kann nicht nur die Entfaltungsmöglichkeiten vieler Bevölkerungsgruppen und kombinatorische Innovation fördern, sondern auch für eine möglichst grosse Chancengleichheit und eine ausgeglichene Zufriedenheit unter den Bevölkerungsgruppen sorgen. Auch wenn man bei einer Entscheidung oft nicht alle gleichermassen glücklich machen kann, ist es einleuchtend, dass ein partizipativer Deliberationsprozess im Durchschnitt zu besseren Lösungen für alle und zu grösserer Zufriedenheit mit dem politischen System führen kann. Anders gesagt: Digitale Demokratie ist dann erfolgreich, wenn es gelingt, die digitalen Möglichkeiten so zu nutzen, dass die Ideen von Habermas oder Fishkin zur deliberativen Demokratie effizient umgesetzt werden.
Es sollte eigentlich einleuchten, dass es für eine vorteilhafte Entfaltung der Komplexität und Diversität moderner Gesellschaften nicht erfolgreich sein kann, zu früheren Regierungssystemen zurückzukehren, die sich bereits als unzulänglich erwiesen haben. Wir brauchen keine Rückkehr zu Lösungen der Vergangenheit – wir brauchen Evolution. Und darum sollten wir die Demokratie entsprechend der Möglichkeiten unserer Zeit mit digitalen Mitteln "upgraden". In weiten Teilen der entwickelten Welt und als Resultat von intellektuellem Fortschritt, Freiheitskämpfen und Revolutionen, hat sich die Demokratie als das erfolgreichste und friedlichste Regierungssystem durchgesetzt. Deshalb propagieren wir anstelle einer datengetriebenen Politik basierend auf zentraler Top-Down-Kontrolle und von europäischen oder globalen Einheitslösungen einen Weg, der die Komplexität und Vielfalt zu unseren Gunsten nutzen kann – durch den Aufbau von dezentralisierten, partizipativen Kooperations-Netzwerken.
Abschied von einer Diktatur der Mehrheit
In jüngster Zeit wurde mehrfach hervorgehoben, dass – insbesondere in polarisierten Gesellschaften und solchen mit signifikanten Minderheitsgruppierungen – die Suche einfacher 51%-Mehrheiten, sei dies in Wahlen oder Abstimmungen – keine geeignete Lösung darstellt, da sie zu einer Diktatur der Mehrheit über die Minderheit(en) führen kann. Zusätzlich haben besonders knappe Resultate (man nehme die Abstimmung zum Brexit oder zur Masseneinwanderungsinitiative in der Schweiz) wiederholt zu Protesten bezüglich der Aussagekraft der Resultate und der Fairness des politischen Prozesses hervorgerufen. Die unterlegene Seite, die einen signifikanten Anteil der Bevölkerung repräsentiert, hat berechtigte Ängste, unter den neuen Bestimmungen zu leiden und hat ein starkes Interesse daran, für eine gemässigte Umsetzung der Beschlüsse zu kämpfen.
Der Umstand, dass auch grössere Minderheiten (Frauen, Ausländer, ökonomisch benachteiligte Schichten, ländliche Regionen usw.) häufig ignoriert werden, stellt eine signifikante Herausforderung dar, deren Lösung nicht-trivial ist. Dennoch wird es mittels MOODs möglich, verschiedene Ansichten und Lösungsansätze zu integrieren. Heute können die Bürgerinnen und Bürger zu einer komplexen, vielschichtigen Frage meist nur „ja“ oder „nein“ sagen. „Ja“ oder „nein“ reicht jedoch oft nicht. Es braucht eine differenziertere und bessere Beteiligung der Bevölkerung. Die Leute sollen kontinuierlich und mit minimem zusätzlichen Aufwand an politischen und gesellschaftlichen Diskussionen partzipieren können. Sie sollen sich differenzierter äussern und Ideen sowie Lösungsvorschläge einbringen können. Der Brexit wird in mancherlei Weise das Leben der Menschen in Grossbritannien verändern. Die meisten Wählerinnen und Wähler haben in ihm sowohl Vorteile als auch Nachteile erkennen können. Wären die Politiker und Institutionen darüber informiert gewesen, wie das Elektorat die Wichtigkeit bestimmter Facetten der Mitgliedschaft in der EU bewerten (zum Beispiel bezüglich Personenfreizügigkeit, politischer Abhängigkeit und ökonomischer Verflechtung), dann hätten sie die Möglichkeit gehabt, wichtige Handlungsfelder und Lösungsmöglichkeiten zu identifizieren und so einer aufkommenden Unzufriedenheit zuvorzukommen.
Natürlich ist Politik kein Selbstbedienungs-Wunderland. Manchmal ist man gezwungen, den Wählerinnen und Wählern die Wahl zwischen zwei (oder mehr) nicht vereinbaren Lösungs-Paketen zu überlassen. Dennoch ist es einleuchtend, dass ein besseres Verständnis der Wählerpräferenzen den politischen Prozess verbessern könnte und besser zugeschnittene Lösungen erlaubt, insbesondere in Kombination mit einem vernünftigen Mass an Föderalismus und Subsidiarität.
Ein neu definierter, inklusiverer Prozess hat diverse Vorteile. Erstens entsteht ein Lerneffekt durch die Beschäftigung mit diversen Aspekten von komplexen politischen Herausforderungen. Zweitens kann die Bevölkerung von Anfang an zur Lösung einer politischen Frage beitragen, was zu einer höheren Zufriedenheit führen kann. Dadurch kann ein solcher Beteiligungs-Prozess Protestbewegungen und extremen politischen Lösungen teilweise den Nährboden entziehen.
Auch wenn die Resultate des Deliberationsprozesses nicht zwingend bindend wären, würden durch MOODs Optionen und Richtungen erkennbar. Durch die Berücksichtigung von regionalen, ethnischen und religiösen Unterschieden können kulturell angepasste Gesetze einfacher ausgearbeitet werden, und es wird klar ersichtlich, ob im Einzelfall ein Gesetz eher auf nationaler oder regionaler oder kommunaler Ebene ausgearbeitet werden sollte. Am Ende eines Deliberationsprozesses kann es immer noch einer Mehrheitswahl bedürfen. Aber zu diesem Zeitpunkt enthielte der Lösungsansatz bereits einen substantiellen Anteil an Ideen und Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger, und es käme daher viel seltener zu polarisierten Ergebnissen.[2] Und selbst wenn ein neues Gesetz zu einer 50:50 Polarisierung führen würde, könnten Deliberationsprozesse nach einer solchen Abstimmung, insbesondere wenn sie wiederum mit einem gewissen Mass an regionaler Autonomie bei der Umsetzung der Resultate kombiniert werden, zu einer besseren Akzeptanz der Ergebnisse führen.
Desinformation durch Social Media zuvorkommen
Fehlende Medienkompetenz, knappe Zeit und sogenannte Filter Bubbles (der Echokammereffekt von Sozialen Medien) sowie die finanziellen Möglichkeiten von mächtigen Meinungsmachern führen dazu, dass ungenaue, manipulierende oder gar gänzlich falsche Informationen verbreitet werden. In diesem Zusammenhang spricht man inzwischen oft vom post-faktischen Zeitalter. Für die Menschen wird es immer schwieriger zu beurteilen, ob eine Information vertrauenswürdig bzw. richtig ist oder nicht. Regierungen, Firmen und reiche Individuen können sich heute ganze Armeen an Bloggern und Social Media Experten kaufen, die eigens angelegte Profile und sogenannte Chat Bots (Chatroboter) betreiben, die Social Media Kanäle mit Informationen fluten, die sie zu verbreiten gedenken. Viele der heute beliebten Social Media Plattformen haben momentan entweder keine Möglichkeiten und/oder kein Interesse, diese Diskussionen zu moderieren. Die so entstehende Informationsasymmetrie widerspricht der Idee eines authentischen Deliberationsprozesses, wie er zum Beispiel von John S. Dryzek definiert wurde.[3] Es gibt jedoch auch Beispiele, die einen Schritt in die richtige Richtung gehen, z.B. die in den Vereinigten Staaten zunehmend beliebte Diskussionsplattform „Reddit“. [DH1] Reddit erlaubt nutzergenerierte Inhalte und Diskussionen. Ein Bewertungssystem ermöglicht es den Nutzerinnen und Nutzern zudem, beliebte Inhalte prominenter zu verbreiten. Entlang dieser Linien gilt es, neue Plattformen zu schaffen, die einen informierten, ausgewogenen, gewissenhaften, substanziellen und umfassenden Deliberationsprozess ermöglichen.
Entscheidungsfindung durch Diskussion, Ausdruck von Präferenzen und Abstimmungen
Kommen wir also zu den Kernmerkmalen, die für das Funktionieren solcher MOODs notwendig sind: 1) MOODs sollen transparent und dezentralisiert organisiert sein, um Manipulationen und Zensur zu verhindern. 2) MOODs sollen moderiert werden durch von der Gemeinschaft gewählte Moderatorinnen und Moderatoren, um faire und konstruktive Diskussionen zu ermöglichen. 3) Künstliche Intelligenz kann dazu genutzt werden, abnormale Aktivitäten zu erkennen und damit Chat-Roboter und Ghostwriter zu enttarnen. Künstliche Intelligenz kann zudem die verschiedenen Argumente in einer Diskussion sortieren und organisieren und so zu einer ausgewogenen und übersichtlichen Diskussion beitragen. Sie kann überdies Behauptungen überprüfen und Fakten ergänzen. 4) Reputationssysteme können verantwortungsbewusstes Handeln fördern und Beiträge von hoher Qualität und solche von Autoren mit hoher Bewertung fördern. Hierbei können manipulierte Bewertungen ebenfalls mit Künstlicher Intelligenz herausgefiltert werden. 5) Ein transparentes und faires Qualifikationsverfahren (z.B. anhand gesammelter Punkte für Beiträge mit einer gewissen Mindestbewertung durch die Gemeinschaft) kann genutzt werden, um zu entscheiden, welche zusätzliche Funktionen und Nutzungsmöglichkeiten freigeschaltet werden.
MOODs können sich verbreiten, ohne dass es Top-Down-Entscheidungen der Politik bedarf. Sind einmal genügend Nutzerinnen und Nutzer vorhanden und wird gezeigt, dass die Diskussionsergebnisse relevant sind, wird der Nutzen für den politischen Prozess schnell ersichtlich. Dennoch ist es natürlich wünschenswert, wenn auch die Politik dazu beiträgt, unsere Gesellschaft mittels Digitaler Demokratie auf ein neues Level der Lebensqualität und Lebenszufriedenheit zu führen.
Es ist also völlig inadäquat, die Digitale Demokratie als frustrierenden Prozess in einer mediendominierten und digitalisierten Welt abzutun. Ein hochentwickeltes Modell einer Digitalen Demokratie muss auf Ko-Kreation, Ko-Evolution und kollektiven Intelligenz fussen, die allesamt durch den Einsatz von modernen digitalen Mitteln unterstützt werden können.[4]
Sicherlich braucht es erhebliche Anstrengungen, diese Plattformen zu kreieren und den demokratischen Prozess fit zu machen für das digitale Zeitalter. Dabei stehen insbesondere technische und rechtliche Fragen im Vordergrund. Aber auch das Aufbauen einer ausreichend grossen Nutzergemeinschaft ist eine Herausforderung. Dabei kommen diverse Anreizmechanismen in Betracht. Wichtig ist weiterhin der einfach Zugang (z.B. via Mobiltelefon) sowie generell die Nutzerfreundlichkeit und das Einbauen von spielerischen Elementen (Stichwort: Gamification). Keine dieser Hürden wäre aber so gross, dass man sie nicht bewältigen könnte. Der potenzielle Nutzen eines neu ausgelegten (direkt-)demokratischen Prozesses überragt jenen einer Rückkehr zu überholten Herrschaftsformen der Vergangenheit bei weitem.
Digitale Demokratie kann einige der wichtigsten Errungenschaften unserer Gesellschaft wiederbeleben: Selbstbestimmung, Freiheit, Gewaltenteilung, Chancengleichheit, soziale Partizipation und Mitbestimmung sowie Diversität und gesellschaftliche Resilienz.
Die Zeit ist gekommen, um gemeinsam an einem Update des Betriebssystems von Politik und Gesellschaft zu arbeiten. Digitale Demokratie ist die Basis für die Erneuerung des vertrauenvollen Miteinanders und gesellschaftlichen Friedens. Sie ist aber auch die Voraussetzung für eine neu belebte, partizipative Wirtschaft, die es jedem gleichermassen erlaubt, innovative Beiträge zu leisten.
Dirk Helbing ist Professor für Computational Social Science an der ETH Zürich und Mitglied der Deutschen Akademien der Wissenschaft „Leopoldina“. Er leitet die nervousnet.info Initiative, die den Nutzen des Internets der Dinge für alle zugänglich machen will.
Stefan Klauser ist Politikwissenschaftler und Fintech-Enthusiast. Er leitet in Professor Helbings Team die strategische Arbeit zum Thema „Digitale Gesellschaft“. Bei einer früheren Stelle im Schweizer Aussendepartement war er für die Erschaffung einer Ausstellung zum Thema der modernen direkten Demokratie zuständig.
Dieser Text basiert auf einer früheren Version, erschienen am 4. August 2016 in der US-Ausgabe der Huffington Post (http://www.huffingtonpost.com/entry/how-to-make-democracy-work-in-the-digital-age_us_57a2f488e4b0456cb7e17e0f).
[1] D. Landa / A. Meirowitz (2009): „Game Theory, Information, and Deliberative Democracy“, in American Journal of Political Science, Volume 53, Issue 2, pages 427–444.
[2] Compare: James S. Fishkin/ Robert C. Luskin (1999): Bringing Deliberation To The Democratic Dialogue.
[3] Dryzek (1990): Discursive Democracy: Politics, Policy, and Political Science.
[4] D. Helbing, Society 4.0: Upgrading society, but how? https://www.researchgate.net/publication/304352735; D. Helbing, Why we need democracy 2.0 and capitalism 2.0 to survive, Jusletter IT (May 25, 2016), see http://bit.ly/1O5axWZ
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