Sunday 4 April 2021

Todesalgorithmen und andere Erfindungen im digitalen Zeitalter

 

Die digitale Revolution würde unsere ganze Gesellschaft umwälzen – das ahnten wir ja schon. Aber wird sie auch eine lebenswerte Zukunft schaffen? Diese bange Frage wird immer drängender in dieser Corona-Zeit, in der die digitale Überwachung immer invasiver wird und Algorithmen über Leben und Tod entscheiden. Kommt jetzt wirklich bald das digitale Paradies, oder haben wir uns verirrt? Sind wir womöglich gar in eine Dystopie geraten? Was können wir tun?

Wir leben in einer Welt, in der wir an den Fortschritt glauben. Nirgendwo sind wir in den letzten Jahren so begeistert vorangestürmt wie bei der Digitalisierung. Schon zum Greifen nah schien das digitale Paradies, in dem Algorithmen-gesteuert alles von selber läuft, von der Produktion bis zum selbstfahrenden Auto; in dem automatisch Milch und Honig fließen (dank Internet-of-Things-Kühlschrank); in dem personalisierte Urlaubsangebote mit einem Klick gebucht werden können; in dem „Alexa“ unser Leben erleichtert; in dem das perfekte Liebesdate lockt – dank Dating-App; in dem Krankheiten eliminiert werden sollen und Körper technisch aufgerüstet. Vielleicht würden wir bald ewig leben, so hoffte mancher schon. Doch dann kam Corona...

Im Grund wusste man, dass irgendwann wieder eine Pandemie um die Welt gehen würde – und mit einer gewissen Chance würde es eine Lungenkrankheit sein. Die Datenschutzgesetze und Menschenrechte waren ebenfalls keine Überraschung. Dennoch war man schockierend schlecht vorbereitet. Wochenlang gab es Lieferengpässe – sogar bei Desinfektionsmitteln und Masken. Mehrfach mussten Krankenstatistiken und wichtige Indikatoren korrigiert werden. Messergebnisse waren unzuverlässig, nicht einmal repräsentativ. Prognosen führten in die Irre. Menschen starben massenweise – oftmals an Triage. Zahlreiche Unternehmen lagen am Boden. Viele Selbständige verzweifelten. Politiker wussten nicht mehr ein noch aus.

Indessen überschlugen sich Unternehmer flugs mit innovativen Vorschlägen: elektronische IDs[1] und Immunitätsausweise[2] standen bereit. Klaus Schwab wollte gleich den „Great Reset“ mit dem World Economic Forum.[3] Auch ein „Internet of Bodies“ stand zur Debatte.[4] Man könnte doch am besten gleich den Gesundheitszustand im Körper ausmessen und automatisch weiterfunken.[5] Keiner der Vorschläge schien so richtig mit dem Grundgesetz vereinbar. Gut fanden sie vor allem die Unternehmen, die auf spektakuläre Gewinne hofften – doch oft genug scheiterten sie an der gesellschaftlichen Realität.

Hat die Digitalisierung sich verlaufen? Zeit für eine Zwischenbilanz! Lange Zeit waren wir mit der Plattform-Ökonomie zufrieden. Sie lieferte uns bequeme und zeitsparende Lösungen. Doch sie läuft nicht mehr rund. Kartell-Verfahren beklagen schwere Marktverzerrungen.[6] Demokratische Wahlen wurden im großen Stil manipuliert.[7] Die Digitalisierung schaffte ein neues Präkariat.[8] Soziale Medien förderten Hate Speech. Fake News wurden zur globalen digitalen Seuche – vielleicht nicht weniger gefährlich als Corona. Kurzum, das Vertrauen ins daten-getriebene Zeitalter hatte beträchtlich gelitten. Und das hat seine Gründe.

Eine nachhaltige Wirtschaft? Fehlanzeige! Demokratieplattformen? Nicht vorhanden! Digitale Katastrophen-Assistenten. Eile mit Weile! Apps für umweltfreundlichen Konsum? In Arbeit! Partizipative Gesundheitsplattformen? Nicht erwünscht! Mein Urteil mag vielleicht zu harsch sein, aber die Hauptentwicklungen der Digitalisierung lagen sicher woanders.

Oftmals hörte man das Credo: „Die Demokratie ist eine veraltete Technologie.“ Peter Thiel sorgte sich vor allem darum, den Kapitalismus sicher vor der Politik zu machen.[9] Facebook’s Motto war gleich: „Move fast and break things.“[10] Derweil machten sich Elon Musk, Apple-Mitbegründer Steve Wozniak, und sogar Bill Gates Sorgen um die Folgen von Superintelligenz.[11] Man hielt ihnen entgegen, man könne der KI ja jederzeit den Stecker ziehen. Doch stattdessen zog man den Stecker bei den COVID-19-Patienten.

Derweil ist der Zustand der Demokratien ebenfalls kritisch. Ehemalige Datenschützer[12] warnen genauso wie ehemalige Bundesrats-[13] und Verfassungsgerichtspräsidenten.[14] Ihr Bücher kommen gegen die Aufmerksamkeitsökonomie nicht an. Die anonyme demokratische Wahl – wurde mit Big Data gehackt. Nicht nur schaut man virtuell gewissermaßen heimlich in die Wahlkabine.[15] Auch werden die Entscheidungen mit personalisierten Informationen gezielt manipuliert.[16] Diese Art der Rattenfängerei höhlt das „one person one vote“ Prinzip aus. Wer mehr Werbedollar investiert, kann mehr Menschen den Kopf verdrehen. Die Dokumentation „The Great Hack“[17] haben Sie vielleicht gesehen. Ehemalige Cambridge-Analytica-Angestellte sprechen von Mindf*ck[18] und von Datendiktatur.[19]

Profiling, Targeting, Scoring...  

Die gängigen Methoden des Überwachungskapitalismus sind das „Profiling“ (d.h. die Erstellung digitaler Dossiers) und das „Targeting“ (die gezielte Manipulation). Im Rahmen des personalisierten „Neuromarketing“[20] – auch „Big Nudging“[21] genannt – werden diese vielfach zu Werbezwecken eingesetzt. Sie sind aber auch Bestandteil des täglich tobenden globalen Informations- und Propaganda-Krieges,[22] weswegen wir wohl die Fake News Plage haben. Zur Begegnung dieses Problems greifen auch bei uns Zensurmethoden zunehmend um sich.[23]

Ein weiteres Prinzip ist das „Scoring“.[24] Im Zusammenhang mit China’s „Social Credit Score“ wurde die Methode als totalitäres Kontrollinstrument des Staates berühmt-berüchtigt.[25] Indessen untergraben Scoring-Methoden (wie der „Customer Lifetime Value“) auch im Westen die Menschenwürde. Scores werden genutzt, um Business-Prozesse zu optimieren. Doch dadurch werden Menschen wie Dinge verwaltet. Darüber hinaus wird Diskriminierung zum Geschäftsprinzip. Nicht nur bekommen wir für die gleiche Leistung unterschiedliche, „personalisierte“ Preise in Rechnung gestellt. Wir bekommen auch andere Angebote angezeigt. Vielleicht werden Ihnen bestimmte Produkte und Services gleich ganz vorenthalten. Ihre und meine digital „kuratierte“ Welt unterscheiden sich massiv. Im Einzelnen haben wir leider keine Ahnung wie. Auch wissen wir nicht, welche „sozialen Ingenieure“ für die Verhaltens- und Gesellschaftssteuerung[26] verantwortlich sind. Man darf bezweifeln, ob sie immer qualifiziert und legitimiert sind. Ist womöglich gar der Nürnberger Kodex[27] tangiert?

Lawrence Lessig warnte uns noch, indem er sagte: „Code is law“.[28] Algorithmen bestimmen immer mehr, was geht und was nicht – ganz am Parlament vorbei. Nicht nur die Demokratie ist weitgehend Makulatur geworden, dank digitaler Revolution. Das Gleiche gilt auch für den Rechtsstaat. „Predictive Policing“-Methoden[29] machen das Prinzip Unschuldsvermutung null und nichtig. Ihr zufolge hätte als unschuldig zu gelten und wäre vor willkürlichem Zugriff zu schützen, wer nicht aufgrund von rechtsstaatlich erlangten Beweisen angeklagt und in einem öffentlichen, fairen Prozess schuldig gesprochen wurde. Doch spätestens seit dem „Karma Police“ Programm des britischen Geheimdienstes GCHQ[30] werden wir Bürgerinnen und Bürger ausnahmslos durchleuchtet – nicht nur auf mögliche Rechtsverletzungen, sondern auch auf ihre Gesinnung, Geschmack und Persönlichkeit. Wurde hier illegal eine Art digitales Jüngstes Gericht installiert? Und fällt es neuerdings auch Todesurteile?

Zunehmend ist von algorithmen-basierten Sterbe-Entscheidungen[31] und Todesalgorithmen[32] die Rede. Sie werden jetzt vielleicht denken, die schrecklichen Triage-Entscheidungen der jüngsten Zeit hätten mit Covid-19 zu tun, nicht mit der Digitalisierung. Doch vermutlich liegen Sie da falsch. Denn die Diskussionen um mangelnde Nachhaltigkeit, Überbevölkerung und Populationskontrolle begannen schon vorher.[33]

Noch vor fünf Jahren warnte die FAZ:[34] „Big Data ist Big Business. Die Sammlung und die Verknüpfung von Informationen über Menschen im Netz bringen Milliarden ein. Und die Methoden werden immer abgefeimter und perfekter. Es ist Zeit, dagegen vorzugehen.“ Nun aber wird eine daten-getriebene Methode zur Echtzeit-Prognose der Covid19-Mortalität vorgeschlagen, abgestützt auf eine Gesundheitsdatenbank[35] – das elektronische Patientendossier lässt grüßen. So können Prognosen zu Lebenserwartungen in algorithmen-basierte Entscheidungen über Leben und Tod übersetzt werden.[36] Insbesondere lässt sich das System für Triage-Entscheidungen verwenden.

Bereits 2020 war in „MIT Technology Review“ von einem Triage-Tool zu lesen, das wohl noch lange im Einsatz sein würde.[37] Auch die Organisation von Triage-Entscheidungen ist algorithmisch codifiziert.[38] In Übereinstimmung mit der Verfassung ist das alles wohl nicht. Doch den Rechtsstaat kümmert der „Todschlag durch Unterlassen“ bisher wenig. Hat man überhaupt schon begriffen, was da gerade passiert?[39]

Trolley-Problem: Das kleinere Übel?

In jüngster Zeit stützte sich die Triage-Debatte oftmals auf das „Trolley-Problem“ ab.[40] Hier geht es um die Frage, wer sterben muss, wenn nicht alle leben können.[41] Die Debatte wurde im Zusammenhang mit autonomen Fahrzeugen zum Megathema gehyped.[42] Vordergründig ging es darum, Menschenleben zu retten.[43] De facto jedoch wurde das verfassungsgemäße Prinzip, demzufolge jedes Menschenleben gleichwertig zu behandeln sei,[44] durch das Prinzip des „geringeren Übels“ ersetzt, das weder mit dem Gleichheitsprinzip noch mit dem Recht auf Leben vereinbar ist.[45]

Ehe man sich versah, hatten soziale Ingenieure eine unterschiedliche Wertigkeit des Lebens eingeführt, die man mit dem „Moral Machine Experiment“[46] flugs zu ermitteln versuchte. „Oma oder Obdachlosen überfahren?“ titelten Zeitungsartikel entsetzt über das makabre Experiment.[47] Damit zog das gnadenlose utilitaristische Nutzen-Denken vollends ins Gesundheitssystem ein, in dem einst die Menschenwürde im Vordergrund stehen sollte. Das Ziel individueller Gesundheit wurde durch das Ziel „gesellschaftlicher Gesundheit“ ersetzt. Und so werden heute Triage-Entscheidungen vielerorts nicht mehr nur in Kriegen und kriegsähnlichen Katastrophenlagen getroffen – sondern auch zur Optimierung von Patientenfluss und Krankenhauslogistik.[48] Inzwischen ist wieder von „Eugenik“ die Rede.[49]

Andere machten sich gar nicht erst die Mühe, mit Kostendeckeln, Kapazitätsengpässen oder Trolleyproblemen zu argumentieren. Sie sprachen gleich von computer-gestützter Euthanasie.[50] Denn genau darum schien es hier zu gehen: um Wege zur Reduktion der „Überbevölkerung“, wie sie in der Vergangenheit gefordert wurden. Doch wer solche Wege empfiehlt oder auch nur toleriert, dem muss klar sein, dass derzeit jährlich bis zu 80 Millionen Menschen zusätzlich sterben müssten, um die Weltbevölkerung konstant zu halten.[51] Das entspricht der Zahl der Opfer des 2. Weltkriegs und des Holocaust zusammen – jedes Jahr! Es wäre ein wahnsinniger Plan.

Dabei war es nur soweit gekommen, weil man die Natur vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Anfang der 70er Jahre wurde klar, dass im 21. Jahrhundert mangels Nachhaltigkeit Umweltkatastrophen und Ressourcenknappheiten wahrscheinlich waren.[52] Dennoch exportierte man die ressourcenverschwendende Wirtschaftsweise der Industrienationen in die ganze Welt. Der Ressourcenverbrauch wuchs um ein Vielfaches. Sogar der Energieverbrauch pro Kopf stieg sprunghaft.[53] Mit dem Erdölverbrauch wuchs die Weltbevölkerung über Jahrzehnte proportional. Es war eigentlich klar, was zu tun war. Doch nun führten jene, die die Katastrophe auf den Weg gebracht hatten, ebendiese als Argument an, um ein Grundrecht nach dem anderen auszuhebeln.

Das „Prinzip des kleineren Übels“ führt schnell zu Willkür. Je schlimmer die Situation, desto weniger Regeln und Gesetze sind zu beachten. Das schafft Fehlanreize für die Mächtigen. So lässt sich alles aushebeln, was uns lieb und teuer ist – unsere Menschenrechte vor allem. Wo doch die Menschenwürde eigentlich ein ewiges und unveräußerliches Recht ist, das wir per Geburt erhalten. Es ist das fundamentalste Recht, das demokratische Politiker mit allen Mitteln verteidigen müssten. Geschieht das unzureichend oder nicht, verliert der Staat als solches Legitimität. Es ist an der Zeit, dass Wissenschaftler und Ingenieure, Politiker, Richter und Journalisten Farbe bekennen. Ansonsten droht uns die digitale Geburt eines autoritären oder gar totalitären Regimes, das Elemente von Feudalismus, Kommunismus und Faschismus daten-getrieben neu erfindet.

Die Parallelen zu früheren Zeiten sind kaum mehr zu leugnen. Viele heutige Gesellschaftsformen enthalten Elemente wie Planwirtschaft, Orwell’sche Massenüberwachung, unethische Experimente mit Menschen (ohne ihr vorheriges Einverständnis), social Engineering und Mind Control,[54] Propaganda und Zensur, Versuche der (Gesinnungs-)Gleichschaltung, staatliche Kontrolle oder Paternalismus, großflächiges Policing (mit Programmen wie PreCrime), Einführung unterschiedlicher Wertigkeit von Menschen, Infragestellung von Menschenrechten, Einführung verschiedener Rechte für verschiedene Bürger, je nach „Relevanz“, im schlimmsten Fall sogar Triage oder Euthanasie.

„Digitales Paradies“ oder Paradigmenwechsel?

Wir haben uns auf das „digitale Paradies“ gefreut. Doch jetzt diskutieren wir darüber, ob wenigstens Geimpfte aus dem Quasi-Hausarrest des Lockdowns irgendwann entlassen werden können. Wir sprechen über „Dichtestress“ und „systemrelevante Menschen“. Menschen, die sich dem System unterordnen, sollen Privilegien erhalten, so der Vorschlag. Für die anderen scheint kein Platz mehr in der Gesellschaft zu sein. Sie werden aussortiert. Das heißt jetzt wohl „new Normal“. Die einstigen Utopien sind in eine Dystopie umgeschlagen – einen Überwachungsalptraum, in dem Künstliche Intelligenz daten-getrieben über Menschen zunehmend bestimmt. Sie haben keine reale Chance mehr, mitzubestimmen oder sich zu wehren.

Wie konnte es nur soweit kommen? Steckt womöglich ein kapitaler Denkfehler dahinter?

Zunächst sollten wir die Idee hinterfragen, dass wir nun zu Maschinenmenschen („Cyborgs“) werden sollten, um am Ende Unsterblichkeit zu erreichen, indem wir unsere Hirninhalte und Persönlichkeit in die Cloud hochladen.[55] Gemäß ihrem „Glaubensbekenntnis“ muss ein Transhumanist unter anderem sein eigenes Leben über alles stellen und nach Omnipotenz streben.[56] Doch würden wir uns nun alle technisch aufrüsten, dann würden sich die Konflikte in der Welt nur weiter verschärfen. Für die meisten Menschen ginge das nicht gut aus. Einige glauben sogar, es könnte das Ende der Menschheit bedeuten.[57]

Während manche – wie Ray Kurzweil – davon träumen, dank Digitalisierung zu Göttern zu werden,[58] sind andere eher skeptisch. Steve Wozniak, Mitbegründer von Apple, etwa fragt:[59] „Werden wir wie Götter sein? Werden wir wie Haustieren sein? Oder werden wir wie Ameisen sein, die man achtlos zertritt?“ KI-Pionier Jürgen Schmidhuber glaubt an die Singularität und menschengemachte künstliche Superintelligenz. Für ihn werden Menschen einst wie Katzen sein.[60] Hört sich das wie eine bessere Zukunft an? Wollen wir das? Oder begehen wir da einen fatalen Fehler? Elon Musk zum Beispiel warnt: „Ich denke, hinsichtlich Künstlicher Intelligenz sollten wir äußerst vorsichtig sein. Wenn ich schätzen sollte, was unsere größte existenzielle Bedrohung ist, dann ist es wahrscheinlich das.“[61]

Wenn Sie mich fragen, braucht es dringend einen Paradigmenwechsel. Zunächst einmal sind Menschen keine biologischen Roboter. Wir sind nicht einfach nur rücksichtslose Optimierer, wie es uns oft suggeriert wird. Wir sind empathisch, haben ein soziales Gehirn. Das macht uns zu einer kooperativen Spezies – der wohl erfolgreichsten auf der Erde. Was unser Leben menschlich und lebenswert macht, das lässt sich schwer in Zahlen fassen: Menschenwürde, Bewusstsein, Liebe, Freiheit, Kreativität. In einer daten-getriebenen Gesellschaft droht das unter die Räder zu kommen. Denn alles, dessen Wert nicht in Zahlen beziffert werden kann oder wird, wird wegoptimiert.

Eine bessere Welt, aber wie?


Damit sind wir bei einem weiteren wichtigen Thema angekommen: der Optimierung der Welt. Dank Informationstechnologie haben Produktion und Logistik einen Effizienzrekord nach dem anderen gebrochen. Warum also sollten wir nicht gleich die ganze Welt optimieren? Nun, erstens, weil trotz aller Effizienzsteigerungen der Ressourcenverbrauch der Welt weiter explodiert ist. Das Nachhaltigkeitsproblem wurde also keineswegs entschärft – es vergrößerte sich sogar. Dennoch hat sich das utilitaristische Denken der Nutzenmaximierung weitestgehend durchgesetzt.

Man müsse nur alle externen Effekte unseres Handelns und Wirtschaftens in Dollar beziffern, dann würde schon alles gut, heißt es. Eine CO2-Steuer würde das Klimaproblem lösen. Auch der Mangel an Organen wäre so zu lösen – mit marktwirtschaftlichen Methoden. Da war es nur konsequent, dass in China Menschen – angeblich auch gegen ihren Willen – Organe entnommen wurden.[62] Betroffen waren vor allem die geringst-bewerteten Volksgruppen.

Gemäß dieser Logik würden nun nicht nur Organe, sondern auch alle Menschen einen Citizen Score zugeordnet bekommen, der ihren gesellschaftlichen Wert ausdrückte. Damit nahm eine Art apokalyptischer Endzeitkapitalismus seinen Lauf. Zahlen bestimmten jetzt, wer noch etwas vom Leben zu erwarten hatte und wer nicht[63] – ähnlich wie das schon zuvor im Nationalsozialismus der Fall war.[64]

Es ist irritierend, dass Optimierung anscheinend nicht zwangsläufig zu einer lebenswerteren Zukunft führt. Doch das hat seine Gründe. Denn Optimierung basiert auf einer Zielfunktion, und die ist letztlich eindimensional[65]. Dadurch drängt ein einziges Ziel alle anderen, inkompatiblen Ziele in den Hintergrund.

Optimieren Sie nur lange genug ein einziges Ziel, so wird die Vernachlässigung der anderen Ziele zu Problemen führen. Natürlich können Sie die Zielfunktion dann ändern (z.B. von der Maximierung von Profit zur Minimierung von CO2). Aber dennoch führt der Denkansatz zu einer Politik, die ständig damit beschäftigt ist, neue Brandherde zu löschen.

Die Natur funktioniert anders. Sie hat die ressourcenschonende Kreislaufwirtschaft bereits erfunden, die wir in unserem ökonomischen System verzweifelt zu schaffen versuchen. Sie erreichte das nicht durch Optimierung, sondern durch Ko-Evolution. An vielen Orten zugleich passieren mannigfaltige Verbesserungen (durch Mutation und Selektion – gewissermaßen durch Innovation). Und zahlreiche Feedback-Loops führen zu einem oft symbiotischen Zusammenwirken.

Nicht dass die Natur perfekt wäre, doch wir können noch viel von ihr lernen. Das Erfolgsrezept liegt in zahlreichen Synergie-Effekten.[66] Diese sind eine Frage der Netzwerkstrukturen und Interaktionen – also dessen, was sich zwischen Subjekten und Objekten abspielt. Häufig sind es also unsichtbare, immaterielle Beziehungen, die über das Ergebnis entscheiden. Passen die Interaktionen, dann resultieren Koordination und Kooperation, kollektive Intelligenz und Ordnung, häufig sogar durch Selbstorganisation.[67] Andernfalls resultieren Instabilität und Kaskadeneffekte, Chaos und Desaster.[68]

Die Digitalisierung gibt uns nun die Mittel an die Hand, das Ergebnis zu entscheiden.[69] Mit dem Internet der Dinge lassen sich multi-dimensionale, lokale Feedbacks etablieren, die für positive Interaktionen und Netzwerkeffekte sorgen. Stellen wir es geschickt an, dann braucht es dafür keine globale Massenüberwachung, Profiling, Targeting und Kontrolle. Digitalisierung, Demokratie, Menschenrechte, Nachhaltigkeit und Resilienz sind keine Widersprüche! Doch es braucht einen neuen Denkansatz, um sie gegenseitig zu versöhnen und zu verbessern.[70] Mit dem Konzept eines sozio-ökologischen Finanzsystems 4.0 haben wir den ersten Schritt getan.[71] Jetzt liegt es an uns allen, damit Frieden und Prosperität – und eine bessere Zukunft zu schaffen.[72] Technologischer Totalitarismus oder digitale Demokratie.[73] Sie haben die Wahl. Entscheiden Sie sich bitte! Jetzt.

[1] https://www.project-syndicate.org/commentary/digital-id-covid19-human-rights-surveillance-technology-by-dirk-helbing-and-peter-seele-2020-09
[2] https://www.dw.com/de/corona-pandemie-ethikrat-gegen-immunitätsausweis/a-55017210
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/Great_Reset
[4] https://www.weforum.org/agenda/2020/06/internet-of-bodies-covid19-recovery-governance-health-data/
[5] https://www.rand.org/blog/articles/2020/10/the-internet-of-bodies-will-change-everything-for-better-or-worse.html
[6] https://www.wiwo.de/politik/europa/amazon-google-und-co-eu-nimmt-den-kampf-gegen-internetgiganten-auf/26609398.html
[7] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/cambridge-analytica-manipulierte-waehler-weltweit-16568193.html
[8] https://www.derstandard.at/story/2000078786980/arbeitsforscherin-die-digitalisierung-kreiert-ein-neues-prekariat
[9] https://www.businessinsider.com/peter-thiel-is-trying-to-save-the-world-2016-12
[10] https://www.amazon.com/Move-Fast-Break-Things-Undermined/dp/0316275778
[11] https://observer.com/2015/08/stephen-hawking-elon-musk-and-bill-gates-warn-about-artificial-intelligence/
[12] https://www.aufbau-verlag.de/index.php/uberwachung-total.html
[13] https://www.faz.net/aktuell/politik/lammert-warnt-vor-einem-ausbluten-der-demokratie-15184290.html
[14] https://www.nzz.ch/international/hans-juergen-papier-warnt-vor-aushoehlung-der-grundrechte-ld.1582544
[15] https://www.silicon.de/41575201/obama-wahlsieg-dank-big-data-und-analytics
[16] https://www.extremetech.com/extreme/245014-meet-sneaky-facebook-powered-propaganda-ai-might-just-know-better-know
[17] https://en.wikipedia.org/wiki/The_Great_Hack
[18] https://www.penguinrandomhouse.com/books/604375/mindfck-by-christopher-wylie/
[19] https://www.harpercollins.de/products/die-datendiktatur-wie-wahlen-manipuliert-werden-9783959673907
[20] https://en.wikipedia.org/wiki/Neuromarketing
[21] https://www.spektrum.de/kolumne/big-nudging-zur-problemloesung-wenig-geeignet/1375930
[22] https://www.droemer-knaur.de/buch/yvonne-hofstetter-der-unsichtbare-krieg-9783426277867
[23] https://nzzas.nzz.ch/kultur/social-media-sind-die-neue-globale-zensurbehoerde-ld.1528410
[24] https://www.pcwelt.de/ratgeber/Superscoring-Wie-wertvoll-sind-Sie-fuer-die-Gesellschaft-10633488.html
[25] https://www.economist.com/briefing/2016/12/17/china-invents-the-digital-totalitarian-state
[26] https://www.leopoldina.org/politikberatung/wissenschaftliche-kommissionen/digitalisierte-gesellschaft/bessere-menschen-durch-digitale-technologien/
[27] https://de.wikipedia.org/wiki/Nürnberger_Kodex
[28] https://www.basicbooks.com/titles/lawrence-lessig/code/9780786721962/
[29] https://www.republik.ch/2020/12/11/die-polizei-weiss-was-sie-morgen-vielleicht-tun-werden
[30] https://theintercept.com/2015/09/25/gchq-radio-porn-spies-track-web-users-online-identities/
[31] https://www.project-syndicate.org/commentary/artificial-intelligence-resilience-covid19-climate-change-by-dirk-helbing-and-peter-seele-2020-11
[32] http://www.passagen.at/cms/index.php?id=62&isbn=9783709204177
[33] https://www.bloomberg.com/news/articles/2019-11-05/scientists-call-for-population-control-in-mass-climate-alarm
[34] http://people.tuebingen.mpg.de/bs/faz-monopol-auf-daten.pdf
[35] https://www.nature.com/articles/s41467-020-20816-7
[36] https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2017/Der-Todesalgorithmus-Computer-berechnet-Lebenserwartung,todesalgorithmus112.html
[37] https://www.technologyreview.com/2020/04/23/1000410/ai-triage-covid-19-patients-health-care/
[38] https://orbit.dtu.dk/en/publications/modelling-the-social-practices-of-an-emergency-room-to-ensure-sta
[39] http://futurict.blogspot.com/2021/01/es-geht-um-ihr-leben-warum-wir-eine.html, http://futurict.blogspot.com/2021/02/es-geht-um-ihr-leben-warum-wir-eine.html
[40] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6642460/
[41] https://de.wikipedia.org/wiki/Trolley-Problem
[42] https://www.zeit.de/kultur/2017-09/kuenstliche-intelligenz-algorithmus-spam-autonomes-fahren
[43] https://www.researchgate.net/publication/319205931_An_Extension_of_Asimov%27s_Robotics_Laws
[44] https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Publikationen/DG/bericht-der-ethik-kommission.pdf
[45] https://www.nzz.ch/meinung/ethisch-sterben-die-gefahr-der-moralischen-entgleisung-ld.1542682
[46] https://www.nature.com/articles/s41586-018-0637-6
[47] https://www.finanzen100.de/finanznachrichten/wirtschaft/ethische-probleme-im-auto-oma-oder-obdachlosen-ueberfahren-makabrer-mit-test-zeigt-dilemma-selbstfahrender-autos_H439792768_308609/
[48]https://www.researchgate.net/publication/51862217_Swedish_emergency_department_triage_and_interventions_for_improved_patient_flows_A_national_update
[49] https://www.tagesanzeiger.ch/ist-es-eugenik-482375266020
[50] https://www.bol.com/nl/f/computermodel-voor-ondersteunen-van-euthanasiebeslissingen/37129233/
[51] Schätzung auf der Basis der Geburts- und Todeszahlen bei https://www.worldometers.info
[52] https://en.wikipedia.org/wiki/The_Limits_to_Growth
[53] https://www.e-education.psu.edu/earth104/node/1347
[54] https://www.youtube.com/watch?v=C74amJRp730
[55] https://www.derstandard.de/story/2000076111193/start-up-will-gehirn-in-die-cloud-laden-nebenwirkung-tod
[56] https://en.wikipedia.org/wiki/The_Transhumanist_Wager
[57] https://www.watson.ch/digital/wissen/533419807-kuenstliche-intelligenz-immenses-potential-und-noch-groesseres-risiko
[58] https://www.huffpost.com/entry/ray-kurzweil-nanobots-brain-godlike_n_560555a0e4b0af3706dbe1e2
[59] https://www.computerworld.com/article/2901679/steve-wozniak-on-ai-will-we-be-pets-or-mere-ants-to-be-squashed-our-robot-overlords.html
[60] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kuenstliche-intelligenz-maschinen-ueberwinden-die-menschheit-15309705.html
[61] https://www.theguardian.com/technology/2014/oct/27/elon-musk-artificial-intelligence-ai-biggest-existential-threat
[62] https://www.businessinsider.de/politik/china-entnimmt-uigurischer-minderheit-gegen-willen-organe-09-2019/
[63] https://www.amazon.com/iGod-Willemijn-Dicke/dp/1544271573/
[64] https://youtu.be/fdloeMNZs7k
[65] (auch wenn man mit einem Index arbeitet, der mehrere Funktionen gewichtet)
[66] https://www.springer.com/de/book/9783662101872
[67] https://www.springer.com/gp/book/9783642240034
[68] https://www.nature.com/articles/nature12047
[69] https://patents.google.com/patent/US20160350685A1/en
[70] https://www.springer.com/gp/book/9783030623296
[71] https://www.springer.com/gp/book/9783030713997, in parts available here: http://ebook.finfour.net
[72] https://link.springer.com/article/10.14441/eier.D2013002
[73] https://www.researchgate.net/publication/348917283_Digital_Democracy_How_to_make_it_work